Blaues Wunder

Beim Kauf eines alten Autos geht man immer ein gewisses Risiko ein. Trotz Probefahrt, intensiver Begutachtung und Studium aller Unterlagen kann es passieren, dass unmittelbar nach dem Kauf ein böses Erwachen folgt. In diesem Fall geht es um einen wunderschönen, blauen Renault R4 und niemand hat Schuld an dem bösen Erwachen: Der Verkäufer hat (Stand heute) keinen Mangel verschwiegen und man hätte diesen auch nicht finden können, denn zum Zeitpunkt des Kaufs lag der Mangel noch nicht vor. Aber eben sehr kurz nach dem Kauf, was trotz aller Unschuld natürlich ärgerlich ist. Auch kann es sein, dass ein initial sehr kleiner Schaden einen gigantischen Aufwand nach sich zieht. Solche Geschichten werden eher selten erzählt. Ein Grund mehr, das hier mal zu tun.

Konkret ließ sich bei dem R4 nach einlegen des 4. Ganges nicht mehr in einen anderen Gang schalten. So gestrandet blieb nur der Abschleppwagen. Wieder auf heimischem Grund wurde das Getriebe in eingebautem Zustand geöffnet, was beim R4 einen guten Blick auf das Räderwerk des Getriebes zulässt. Es hat einen Moment gedauert festzustellen, dass der Defekt vom blockierten Synchronkörper zwischen 3. Und 4. Gangrad ausgelöst wurde. Einer der drei Gleitsteine war abgeschert. Ein Schaden, der wohl eher selten ist. Die Gleitsteine werden von einer Feder auf jeder Seite fixiert. Vermutlich hat sich eine der Federn verschoben.

Zu einer weiteren Diagnose ist es nicht gekommen, da dies eine komplette Demontage des Getriebes bedeutet hätte. Stattdessen wurde ein gutes gebrauchtes Getriebe gesucht und gefunden. 

Nun hätte es schnell gehen können: Defektes Getriebe raus, funktionstüchtiges rein. Ist das Getriebe raus, tauscht man die Kupplung sowie die Simmerringe von Kurbel- und Nockenwelle, weil man gerade so schön drankommt. Auch war der Motor gut ölig aus Richtung der Simmerringe – also frisch ans Werk.

Leider hat sich nach Entfernen der Simmerringe gezeigt, dass die Dichtfläche der Nockenwelle Schäden aufwies. Vermutlich wurde der Simmerring schon mal getauscht und dabei laienhaft durch das Einschrauben von Holzschrauben ausgebaut. Spuren davon waren auf der Nockenwelle zu finden. Unter diesen Umständen wäre diese Stelle nie richtig öldicht geworden. Zu lösen war das Problem nur durch eine intakte Nockenwelle. Fündig wurde ich mit einer guten gebrauchten Nockenwelle bei einem französischen Händler. Der Wechsel gestaltet sich bei dem späten R4-Motor (Kennnummer 688) glücklicherweise recht einfach. Jedoch musste der Motor nun erstmal komplett raus, da man in eingebautem Zustand schlecht an den Steuerkettentrieb kommt und schon gar nicht die Nockenwelle nach hinten aus dem Motor ziehen kann.

An dieser Stelle möchte ich explizit davon abraten, Simmerringe mit Holzschrauben aus zu bauen. Insbesondere wenn es eng zu geht, ist das Risiko einen großen Schaden an zu richten hoch. Stattdessen kann ich uneingeschränkt günstige und universelle Auszieher für Wellendichtringe empfehlen.

Zum Tausch der Nockenwelle wird der Motor nach dem Ausbau so positioniert, dass die Stößelstangen waagerecht liegen. Nun demontiert man den Ventiltrieb, die Stößelstangen, das Antriebsritzel von Ölpumpe und Zündverteiler und die Steuerkette und dreht die Nockenwelle durch, um die Tassenstößel in ihre Kanäle zu drücken. Durch die waagerechte Position verbleiben sie dort und man kann die alte Nockenwelle ohne Hindernisse herausziehen. Versehen mit Montagepaste für die erste Schmierung wird nun die intakte Nockenwelle einfach in das Motorgehäuse geschoben. Zuvor wird noch geprüft, dass auch wirklich kein Tassenstößel in den Weg gerutscht ist. Im Fall der Fälle drückt man den betroffenen Stößel z.B. mit einem Montiereisen wieder zurück.

Zu erwähnen ist noch, dass es zwei unterschiedliche Ausführungen von Nockenwellen für diesen Motor gibt. Bei der einen Version wird das Kettenrad der Nockenwelle durch einen Halbmondkeil gegen Verdrehen gesichert, bei der anderen hat das Kettenrad eine Nase, die wiederum in eine Aussparung der Nockenwelle greift. Natürlich (man ahnt es schon) waren alte und neue Nockenwelle unterschiedlich und so musste die neue Nockenwelle umgearbeitet werden. Konkret entfernt man Distanzschiebe und Sicherungsblech und entnimmt den Halbmondkeil. Nun muss man nur noch an der Stirnseite die Aussparung, in der der Keil gesessen hat, auffeilen, um das Kettenrad montieren zu können. Die Nockenwellen sind sonst identisch, wie mir von dem französischen Händler bestätigt wurde.

Als nächstes konnte die alte Steuerkette, die für gut befunden wurde, wieder montiert werden. Natürlich muss man dabei die Lage der Räder zueinander berücksichtigen, um die Steuerzeiten nicht zu verstellen. Hier gilt wie für alles andere auch: So viele Fotos vor dem Auseinanderpflücken der Komponenten machen, dass man sich deutlich paranoid vorkommt – dann könnten es gerade genug sein. Auch ist es wunderbar, dass man die Werkstatthandbücher für den R4 frei verfügbar als durchsuchbare (OCR) PDF-Dateien herunterladen kann. Der Steuerkettenspanner wurde ebenfalls ausgetauscht, da der alte deutliche Laufspuren aufwies.

Nun wurde wieder alles montiert und die Ventile eingestellt. Motor und Getriebe sollten diesmal zusammen in den Motorraum schweben und so musste das Lenkgetriebe auch noch aus dem Weg. Der Plan war dann im eingebauten Zustand noch die Ölwanne abzunehmen, da die neue Gummidichtung zum Steuerkettendeckel sich mit eingebauter Ölwanne partout nicht einsetzen lassen wollte. Leider zeigte sich nach dem Einbau des Motors, dass die Ölwanne so nicht sinnvoll auszubauen ist. Die Spritzwand des Fußraums ist im Weg. Also musste alles noch mal raus und die Ölwanne wurde bei am Motorkran hängender Motor-Getriebeeinheit erledigt. Im Anschluss dann noch mal alles an Ort und Stelle heben und es ging mit großen Schritten und mit neuen Betriebsstoffen auf den Testlauf zu.

Die Ernüchterung folgte umgehend. Der Motor strotzte mit allerlei Fehlzündungen und sprang nicht an. Dafür versagte der Anlasser nach wenigen und kurzen Startversuchen seinen Dienst und wurde durch einen neuen ersetzt. Die Steuerzeiten wurden überprüft und für gut befunden. Also konnte es eigentlich nur an der Zündung liegen. Zündfunke war da aber der Zeitpunkt schien alles andere als zu stimmen. Bei den alltäglichen Gymnastikübungen unter dem Motor fiel dann noch auf, dass das Getriebe sein Öl nicht behalten wollte. Grund dafür war die defekte Feder für den Längenausgleich der linken Antriebswelle. Kurzerhand wurden zwei neue Wellen von SKF bestellt und verbaut.

Nach vorerst ahnungsloser Recherche in Sachen Zündung war der logische Schluss, dass das Ritzel, das Ölpumpe und Verteiler durch die Nockenwelle antreibt, in einer bestimmten Position eingebaut werden muss. Es half nur Trial and Error sowie das erneute Abnehmen des Ventildeckels, um festzustellen, welcher Zylinder bei geschlossenen Ventilen gerade zünden sollte. Somit war klar, welche Position der Verteilerfinger grob haben müsste und so ließ sich auch die korrekte Position des Antriebsritzels finden.

Nun sprang der Motor an und lief deutlich besser als vor den ganzen Arbeiten, was aber vermutlich nur auf zuvor falsches Ventilspiel zurückzuführen ist. Es folgte noch eine Feineinstellung des Zündzeitpunktes mit der Stroboskoplampe und etwas Nachjustieren am Vergaser.

Wir fassen zusammen: Austauschgetriebe, Simmerringe von Kurbel- und Nockenwelle, neue (gebrauchte Nockenwelle), Kupplung, Steuerkettenspanner, Anlasser und Antriebswellen. Und das alles nur weil ein Gleitstein oder eine Feder im Getriebe aus der Reihe tanzen wollte. Sicher – nun sind die Verschleißteile neu und der Motor ist dicht, aber irgendwie stellt man sich die ersten Wochen nach dem Kauf anders vor…

Ganz herzlich danke ich meinem Vater Andreas, der unermüdlich mit geschraubt hat sowie dem R4-Forum.de, dass mit detektivischem Eifer die Diagnostik unterstützt hat. Aus der Runde ist insbesondere Thomas (R4D4) zu nennen, der sogar so nett war Telefonsupport zu leisten, wenn ich wirklich nicht mehr weiterwusste.

Der Besitzerin des R4 wünsche ich allzeit gute und pannenfreie Fahrt.